Beispiel 1:
Ein Patient leidet unter vermehrter Prüfungsangst, muss jedoch Vorträge halten oder unterrichten usw. und zieht dabei unwillkürlich die Körpervorderseite (Bauch, Schulter - Brustmuskulatur) zusammen - siehe Stop-Reflexmuster. Gleichzeitig muss er jedoch seinen „Mann" stehen und die Prüfungssituationen meisterhaft bestehen. Also kompensiert er den Stop-Reflex mit einem übertriebenen Start-Reflexmuster der Rückenmuskulatur. Niemand soll schließlich erkennen können, dass er eigentlich sehr viel Angst hat...
Dies kann also zu Problemen führen, die sowohl die Körpervorderseite als auch die Körperrückseite betreffen. Der Patient kommt in die Praxis und klagt über massive Rückenschmerzen. Die Ursache könnte jedoch in einer vermehrten Aktivierung des Stopreflexes liegen (Überkompensation).
Therapeutischer Ansatz:
In diesem Fall wird sowohl die Muskulatur der Körperrückseite (Startreflex) als auch der Körpervorderseite (Stopreflex) behandelt und beübt. Erst durch das Ermitteln der genauen Ursachen des Problems lässt sich eine adäquate Behandlungsstrategie festlegen.
Kompensationsreaktionen, bewusst oder unbewusst, treten häufig bei allen drei Reflexmustern auf und verkomplizieren das Krankheitsbild. Sie sind ein weiteres Argument für die ganzheitliche Herangehensweise, die den nötigen Überblick verleiht, um auf diese Sachverhalte individuell und effektiv reagieren zu können.
Beispiel 2:
Ein Computerbidschirm, der beispielsweise am Arbeitsplatz deutlich eher links von unserer Körpermitte aus plaziert ist, führt auf die Dauer zu einer Verdrehung der Körpermitte nach links, während als Widerlagerung das Becken, die Gesäßmuskulatur unter Umständen deutlich nach rechts zieht. Die Widerlagerung ist notwendig, weil der Mensch sonst vom Stuhl fällt. Er muss mit einem Teil seines Gewichtes die Rumpfdrehung zum Bildschirm ausgleichen.
Er sitzt andauernd unter zusätzlicher Muskelanspannung, die allmählich zur "Grundeinstellung" des Muskeltonus wird. Es können anhaltende Schmerzen im Becken -, Gesäß und Lendenwirbelbereich entstehen.
Wird dann ein aufblasbares Zwischenkissen hinzugenommen, weil er denkt, dass etwas "Mobilität" ihn vom passiven Sitzen und den Schmerzen befreit, bleibt das Ergebnis unbefriedigend: zur Kompensationshaltung wird ihm noch eine zusätzliche Muskelarbeit aufgebürdet.
Therapeutischer Ansatz:
1. Der Arbeitsplatz muss neu ausgerichtet werden. Der Bildschirm muss natürlich in die Mitte!
2. Die chronisch angespannte Muskulatur muss detonisiert, d.h entspannt werden. Dies kann durch gymnastische Übungen von Thomas Hanna (Somatic Education) erreicht werden.
3. "Richtiges Sitzen" über z.B. Alexander Technik, Rückenschule etc. kann helfen, unbeschwert, leicht und entspannt Sitzen zu lernen. Ein besserer "Gebrauch" des Körpers kann nun ein verlässliches Element werden, auf das aufgebaut werden kann, um zusätzliche Anspannungen besser verarbeiten zu können. Dauerhafte Verbesserung in seiner Koordination, seiner Kondition und seiner Arbeitsfähigkeit wird möglich.
Beispiel 3:
Ein Skifahrer bricht sich das linke Fußgelenk. Der Bruch wird operativ mittels Schrauben und einer Schiene versorgt. Mit dieser Situation wird er in den nächsten Wochen seinen Alltag bewältigen müssen. Instinktiv wird er sein rechtes Bein deutlich stärker belasten, damit sein linkes Fußgelenk entlastet wird und genesen kann. Nach drei Monaten ist der Bruch rein medizinisch weitgehend ausgeheilt und der Fuß wieder relativ gut belastbar. Nach einiger Zeit klagt er über Probleme in der linken Hüfte und dem linken, unteren Rücken (LWS). Als Folge des Traumas, der Verletzung, welche das Gehirn abgespeichert hat, hat er über die vielen Monate instinktiv vermieden, das linke Bein voll zu belasten. Er schreckt unbewusst vor einer Vollbelastung zurück. Als Ausgleich hat er sich allmählich unbewusst daran gewöhnt, unmerklich die linke Hüfte etwas nach oben zu ziehen, so dass man im Körperbild eine sog. Linkslateralisation sehen kann. Er hat somit einen Traumareflex entwickelt, der ihn unwillkürlich davor hemmt, das Bein vollständig zu belasten.
Therapeutischer Ansatz:
1. Nach der Befundung und Anamnese wird der Traumareflex beübt und "harmonisiert", d.h. der teilweise unbewusste Reflex wird durch Bewusstmachung und therapeutische Gymnastik in eine natürlichere und gesündere Form zurückgebracht.
2. Das linke Bein wird speziell darauf vorbereitet und beübt, wieder in die Vollbelastung zu gehen. Alle Rückzugseffekte werden eliminiert und das Gangbild wird verbessert und wieder gleichmäßig gemacht.
3. Kompensationseffekte auf der rechten Körperseite werden in die Therapie mit einbezogen, da diese Seite bisher fast ausschließlich für die gesamte Statik des Körpers zuständig war.
Die oben genannten Beispiele sind eher modellhaft und sind keinesfalls auf jeden Menschen übertragbar. Sie sollen nur das Thema und die Möglichkeiten veranschaulichen, die durch sensomotorische Sachverhalte verursacht werden könnnen.
Jeder Patient bringt individuelle Ursachen und Symptome mit, die ihn von anderen Problemfällen sehr unterscheiden können. Das Ermitteln dieser individuellen Situation erfordert eine umfassende Anamnese und Befundung.